Nun steht es fest: Der japanische Premierminister Shinzo Abe wird aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten (über seinen Nachfolger wird im Moment noch spekuliert). Darin liegt eine gewisse Tragik, denn schon einmal, im Jahr 2007 , musste Abe nach nur kurzer Zeit aus Krankheitsgründen vom Amt des Regierungschefs zurücktreten. Abe zählt dennochund das als ein besonderer Regierungschef, nicht nur weil er der am längsten regierende Premier in Japans Nachkriegsgeschichte ist: Anlass genug für einen kurzen Rückblick.
Shinzo Abe im Amt des Premiers habe ich nur im ersten Jahr miterlebt: 2013. Bereits da war er für einige Überraschungen gut. Abe stellte umgehend nach Regierungsantritt die Wirtschaftspolitik in den Vordergrund. Das war zwar nicht anders zu erwarten gewesen, lag hier doch der Schwerpunkt der Kritik an der Politik der Vorgängerregierung. Der Schwung aber, den Abe mitbrachte, verblüffte denn doch: „Abenomics“ nannte er seine Maßnahmen mit ihren „drei Pfeilen“ – Geldpolitik (er pumpte viele Yen in den wirtschaftlichen Kreislauf), Fiskalpolitik (er setzte die lange für notwendig gehaltene Mehrwertsteuererhöhung durch, an die sich keiner seiner Vorgänger gewagt hatte), Strukturreformen (insbesondere die bemerkenswerte Verbesserung der Position der Frau in der Arbeitswelt). Verblüffend aber, und in Japan außergewöhnlich, die Vehemenz, mit der Abe bis heute an seiner Politik festhielt, die der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt in schwierigen Zeiten Balance sicherte. Und wenn auch die Ankurbelung der Volkswirtschaft konträr zur Philosophie lag, der die deutsche Bundesregierung folgte, es war erstaunlich und erfreulich, wie sehr die „Chemie“ zwischen Abe und der Bundeskanzlerin stimmte: Ein großer Vorteil für die Abstimmung zwischen beiden Ländern in den gegenwärtigen Krisenzeiten.
Dass Abe nicht nur gläubiger Shintoist ist, sondern auch zur am stärksten rechtsaußen positionierten Gruppe in seiner Partei, der LDP, gehört, war nie ein Geheimnis. Insofern auch keine Überraschung, dass Abe sich sehr bald bemühte, die Verfassung Japans umzuschreiben: Über die Frage der Kriegführung (die der Artikel 9 der Verfassung verbietet) hinaus auch mit dem noch viel ehrgeizigeren Ziel, die japanische Gesellschaft insgesamt nach entschieden konservativen Vorstellungen umzubauen. Hier jedoch stand Abe gegen die weit überwiegende Mehrheit der Japaner – und er erwies sich als pragmatischer Politiker, der die moderne Wirklichkeit Japans (vielleicht zähneknirschend, aber doch) hinnahm. Noch pragmatischer zeigte Abe sich zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, als er eine Erklärung abgab, die deutlich Japans Verantwortung für das Leid aussprach, das Japans Angriffskrieg verursacht hat. Auch die sensible Frage, ob er als Premier den kontroversen Yasukuni-Schrein aufsuchen dürfe, in dem der japanischen Kriegstoten mit Shinto-Ritualen gedacht wird, handhabte er zunehmend geschickt. Noch weniger begeistert dürften die Konservativen in der LDP gewesen sein, als es Abe gelang, mit der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-hye einen Kompromiss zur Handhabung der noch offenen Fragen um die koreanischen Zwangsprostituierten während der japanischen Besetzung Koreas zu finden (der Kompromiss wurde leider von der Regierung des nächsten koranischen Präsidenten Moon Jae-in auf Eis gelegt).
Schließlich die Corona-Pandemie. Die großen Pläne Abes für die Olympischen Spiele in diesem Jahr wurden durchkreuzt. Es gelang Abe jedoch, zu zeigen, wie man erfolgreich gegen das Virus angehen kann: Deutschland steht im internationalen Vergleich nicht schlecht da. Doch hier sind dem Virus 111 Personen auf je eine Million Einwohner erlegen, in Japan 9. Und das deutsche Bruttoinlandsprodukt ist um fast 12 Prozent geschrumpft, das japanische um 8,4. Vorzeigbar, gar keine Frage Shinzo Abe: ein bemerkenswerter und erinnerungswürdiger Premier Japans. Jedem seiner möglichen Nachfolger (derzeit werden vier Politikergehandelt) hinterlässt er Schuhe, die ihm womöglich zu groß sein werden. – Übrigens, in jenem Jahr 2013, das ich Abe im Amt erlebte, bin ich ihm nur einmal persönlich begegnet, in etwas unerwartet kurioser Weise: Mit einem deutsch-japanischen Gremium, das alle zwei Jahre in Tokio zu Fragen der bilateralen Beziehungen tagt, war ich bei einem Treffen mit Abe. Traditionell legt der japanische Regierungschef hier ausführlich die wichtigsten Elemente seiner Ziele und seiner Arbeit dar. Nicht so Shinzo Abe: Nach ein paar knappen Begrüßungsworten stellte er sich vor die rückwärtige Wand und jeder Teilnehmer an dem Treffen durfte sich händeschüttelnd mit ihm fotografieren lassen. Nein, an Selbstbewusstsein mangelte es Abe nicht – durchaus zu Recht, darf man sagen wenn man die Leistungen dieses Regierungschefs mit der längsten Regierungszeit in der Nachkriegsgeschichte Japans betrachtet.
Text: Volker Stanzel
Interview im Deutschlandfunk:
Dr. Thomas Weyrauch