Irgendwo hält meine durch Umzüge verwirrte Bibliothek den Bildband der Olympischen Spiele 1964 in Tokio verborgen. An das Foto des damals brandneuen Shinkansen erinnere ich mich sehr genau. Für die japanische Nation – 1945 in den Abgrund gestürzt – waren jene Olympischen Spiele von hoher Symbolkraft: „Wir sind wieder wer unter den Völkern der Erde!“

Bei den Olympischen Spielen 1972 in München hatte ich Gelegenheit, zwei Wochen lang dabei zu sein. Die Symbolik für Deutschland war ähnlich wie acht Jahre zuvor in Tokio, aber jenseits des Sports bleiben auch andere Facetten unvergessen: Einerseits die Olympischen Spiele als ein ausgelassenes Fest Hunderttausender junger Menschen aus aller Welt, andererseits ein blutiges Fanal politischer Gewalt – die 24 Stunden der Geiselnahme bis zum Schrecken der Nacht von Fürstenfeldbruck. Nach der Trauerfeier ging es weiter. Der Konsens: Wir beugen uns dem Terror nicht.

Fünf Jahrzehnte später hat sich manches geändert, vieles ist geblieben: Olympiateilnahme als Krönung von Sportlerkarrieren, Belohnung für Training, Training und noch mehr Training. Vielfach ist es ein knapp bemessenes Altersfenster in einem Sportlerleben. Verpassen er oder sie diese Spiele, wird es keine anderen geben.

Der nationale Impetus bei den ausrichtenden Staaten mündete in ungeahnte Kostenspiralen. Vermutlich genau dieses ließ bereits früher und jetzt auch in Japan immer mehr Menschen die Gastgeberrolle ablehnen. Sicherlich keine Ablehnung des Sports, der Sportlerinnen und Sportler oder ihrer Wettkämpfe, aber Skepsis hinsichtlich der Selbstdarstellungsorgien drumherum.

Nun die Pandemie! Fast alles ist anders. Pierre de Coubertins fünf Ringe scheinen auf vier zusammengeschmolzen zu sein. Und diese haben Namen: Sowohl / als auch / weder / noch. Geblieben sind sowohl das globale Sportereignis („Teilnahme ist alles, nicht der Sieg.“) als auch die vielen Krönungen individueller Sportlerkarrieren. Aber zu finden sind weder überzogenes nationales Pathos des veranstaltenden Landes noch vor allem der beschwingte Treffpunkt der Jugend dieser Welt jenseits der Sportler und ihrer Teams. Erstgenanntes vermissen wohl wenige, das Fest der Jugend fehlt essentiell. Ohne dieses mangelt es Olympia an seinem wichtigen Beitrag zu Völkerverständigung und Frieden auf unserem Globus.

Dennoch: Ich bin überzeugt, Japan und das IOC haben alles richtig gemacht. Eine Absage wäre eine Sünde an den vielen Sportlern gewesen, die vielleicht in ihrer Laufbahn nur dieses eine enge olympische Zeitfenster haben. Die Restriktionen der Pandemie gewähren nun die Freiheit darüber nachzudenken, was an der praktizierten olympischen Idee wirklich wichtig ist und an welchen Stellen in Zukunft kürzer getreten werden sollte.





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